jazzwerkstatt Peitz 57: Die Band UNITY 5 zusammen mit Marie und Ulli Blobel © Foto: Ingrid Hoberg
WOODSTOCK AM KARPFENTEICH IN ZEITEN VON CORONA
Getrieben von jugendlicher Aufmüpfigkeit und künstlerischer Neugier entstand vor 50 Jahren in Peitz, einer Kleinstadt im Osten der Lausitz, die Idee einer Jazzwerkstatt. Binnen weniger Jahre mauserte sich der Ort zu einem Hotspot des internationalen Jazz in der DDR. 1982 schob der Staat der Erfolgsgeschichte, die zuletzt bis zu 3.000 Jazzenthusiasten an die polnische Grenze lockte, einen Riegel vor und entzog den beiden Initiatoren Ulli Blobel und Peter 'Jimi' Metag die Genehmigung. Seit 2011 nun trifft sich der Jazz wieder am Rande der Lausitzer Teichlandschaft – 2020 in der 57. Auflage.
In Peitz - ehedem brandenburgische Festungsstadt, heute geprägt von einem der dreckigsten Braunkohlekraftwerke Europas, dessen Silhouette die idyllische Teichlandschaft weithin dominiert - nahm die Jazzwerkstatt vor 50 Jahren ihren Ausgang. In diesem Jahr, Corona bedingt vom Frühjahr auf den Herbst verschoben und mit erheblich reduziertem Publikum, feiert die Jazzwerkstatt ihre 57. Auflage. Im Zentrum des Geschehens steht das Festivalzelt, das eingequetscht zwischen dem zinnenbedeckten Peitzer Rathaus und der kleinen Stadtkirche, die der Schinkelschüler und preußischen Hofbaumeister Friedrich August Stüler 1854 gebaut hatte, Platz für vielleicht 200 Menschen bietet. Sie sind heuer der Einladung von Ulli Blobel, 1950 in Peitz geboren, trotz Corona gefolgt. Ausverkauft. Dennoch hatte die Jazzwerkstatt in diesem Jahr - gemäß der Abstandsregeln - so wenige Zuhörer wie nie. Hier im Zelt, in der Kirche nebenan und auf dem Open Air am Fuße des Festungsturmes um die Ecke bietet das dichte Programm der Jazzwerkstatt an zwei Tagen 18 Konzerte mit knapp 50 Musiker*innen.
Eigentlich sollten sich im Jubiläumsjahr 2020 Jazzer vor allem aus der amerikanischen und britischen Szene ein Stelldichein geben. Die Reisebeschränkungen haben die Planungen durchkreuzt, aber nicht ganz verunmöglicht. Denn mit Ralph Towner, Trevor Watts & Jamie Harris und Kit Downes sind trotz Pandemie mindestens drei Jazzlegenden aus der angloamerikanischen Szene in die Lausitz gekommen. Ihre zeit- und nervenraubende Anreise mit dem Auto durch den Tunnel des Ärmelkanals nonstop durch Belgien in den tiefen Osten hört man den Künstlern in keinem Takt ihrer furiosen Auftritte an.
Die Bewältigung von Hindernissen war immer schon ein Ding der Jazzwerkstatt Peitz. Alles begann mit dem Erschleichen einer Genehmigung zur Nutzung des ortsansässigen Filmtheaters - das heute am Rand des Städtchens vor sich hingammelt - durch einen befreundeten Ortspolizisten. Blobel und Metag (1950 – 2013), gerade der Schulbank entwachsen, wollten nicht mehr Montag für Montag nach Berlin fahren, um abends in der 'Melodie' oder am Deutschen Theater Jazz hören zu können. Also holten sie den Jazz nach Peitz – die Geburt des Festivals aus dem Geist von Bequemlichkeit und jugendlichem Snobismus: Blobel und Metag hatten die nächtlichen Bahnfahrten nach Berlin und die Übernachtungen in der Mitropa satt. Bereits Anfang der 1970er Jahre zählten Musiker wie Klaus Renft, Klaus Lenz oder Tomasz Stańko zu den Gästen der Peitzer Jazzwerkstatt. Der Begriff der Werkstatt war dabei nicht nur eine Floskel, vielmehr bot Peitz dem Jazz im Osten eine Versuchsbühne: Nicht den Westen nachspielen, sondern das Experiment suchen, unter den Bedingungen der musikalischen und ideologischen Beschränktheit des Regimes, das den sozialistischen 'Lipsi-Tanz' kultivierte und wenig für musikalische Aufbrüche übrighatte. 'Weltniveau' im Überwachungsstaat. Manch einer der Jazzer aus dem nicht-sozialistischen Ausland reiste unter falschem Namen an. Auch deutsch-deutsche Ensembles waren von Staats wegen unerwünscht. So wurde aus dem Dresden-Wuppertaler Duo Günter „Baby“ Sommer und Peter Kowald 1976 kurzerhand das Sommer-Winter-Duo. Nur die Jazz-Gemeinde wusste, was hier gespielt wurde.
Jahr um Jahr kamen mehr Jazzbegeisterte, Anfang der 1980er Jahre waren es bis zu 3.000 Gäste. Wenngleich die Jazzwerkstatt für das Regime schwer zu fassen war - die kleine Szene war wenig strukturiert, nicht zentral organisiert - zwang allein die große Teilnehmerzahl den Staat schließlich zum Eingreifen: "Werter Kollege Blobel!", so beginnt der Brief des Peitzer Bürgermeisters vom 17. Mai 1982, "wir teilen Ihnen hierdurch mit, dass Ihnen mit sofortiger Wirkung die Berechtigung zum Abschluß von Vereinbarungen und Verträgen jeder Art zur Vorbereitung und Durchführung von Jazzveranstaltungen und anderer Konzertveranstaltungen entzogen wird." Der Sargnagel für das heimliche Mekka des Jazz in der DDR. Metag bleibt in Peitz, Blobel geht – nach Wuppertal, ruiniert sich in New York binnen weniger Monate durch zu große Projekte, rappelt sich als Musikproduzent von Ginger Baker, mit dem Schwerpunkt afrikanischer Jazz wieder auf und macht schließlich gutes Geld als Schallplattenproduzent – sein Jugendtraum.
Im November 1989 erfährt Blobel in Brasilien von einer deutschen Nonne, dass "das Reich wieder eins" sei. Erstmals nach seiner Ausreise besucht er Peitz, seine Eltern. Und knüpft zwölf Jahre später an das 1982 verbotene 'Woodstock am Karpfenteich' an, bringt wieder Jazz nach Peitz. Die Jazzwerkstatt bleibt ein Zuschussgeschäft. Und auch 2020 ist es so verrückt wie berückend, hier in der Provinz internationale Stars der Jazzszene zu erleben: ob Ralph Towner oder Trevor Watts, ob Alexander von Schlippenbach, Wolfgang Schmidtke oder Helga Plankensteiner mit Florian Bramböck; ob Baritonsaxophon, Portativ, Sheng, Drums oder Orgel: Am Karpfenteich treffen sie sich. Viele alte Jazzer aus aller Welt, wenige Frauen. Blobel sieht das pragmatisch: "Die Musiker sind alt. Das Publikum ist alt. Ich bin alt. Wir machen weiter." Wir: Das sind er und – 2020 erstmals - seine Tochter Marie, die den Stab langsam übernehmen soll. Wäre doch schön, wenn 2040 zu Blobels 90. Geburtstag das 77. Festival in Peitz über die Bühne gehen könnte. Auch weil es in Peitz um sehr viel mehr geht als die Musik: Wenn hier der Jazz aufspielt, steht auch das Bekenntnis zur Förderung strukturarmer Regionen im Osten der Republik auf dem Programm.
Die Jazzwerkstatt Peitz ist Thema in der Ausstellung 'Störenfriede. Kunst, Protest und das Ende der DDR', die noch bis zum 2. Mai 2021 im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig zu sehen ist.
Dr. Stephanie Jacobs - Deutsche Nationalbibliothek / Leiterin Deutsches Buch- und Schriftmuseum
Leipzig / 16. September 2020
Link: https://www.dnb.de/DE/Kulturell/WechselausstellungDBSM/wechselausstellungDBSM_node.html