Vorabdruck des Kapitels VIELE
WEGE FÜHREN NACH PEITZ von UWE WARNKE aus dem neuen Buch: WOODSTOCK
AM KARPFENTEICH II
VERLASSENE
FREILICHTBÜHNE PEITZ - 2019 und RUINE DES FILMTHEATERS PEITZ - 2022
| © Photos: Uwe Warnke
Natürlich
kann man aus allen möglichen Richtungen auch mit dem Fahrrad nach
Peitz reisen. Im Grunde bieten sich aber zwei Touren besonders an,
die, immer vom Startplatz Berlin gedacht, eben auch mehr sind als nur
die Scheinroute vom Bahnhof Peitz Ost zum Hotel.
Als ich in den 2010er Jahren zum ersten Mal hörte, dass es die jazzwerkstatt in Peitz wieder gebe, sah ich mir die Lage des Ortes auf einer Landkarte genauer an und plante, von Norden mich der Stadt zu nähern. Das heißt von Königs Wusterhausen, im Süden Berlins gelegen, könnte ich eine Regionalbahn Richtung Frankfurt/Oder nehmen, unterwegs irgendwo hinter Beeskow aussteigen und dann mit dem Fahrrad den Weg nach Süden suchen. Gemütlich drei Stunden bei Sonnenschein Rad fahren und die Vorfreude auf das Jazz-Wochenende genießen; so stellte ich mir das vor. Ich ging es genauso an, hatte aber nicht damit gerechnet, dass dieselbe Bahnstrecke von Fans eines Rockfestivals genutzt wurde, die zuhauf und mit Campingausrüstungen den Zug komplett blockierten. Unmöglich mit einem Fahrrad da noch mitreisen zu wollen. Eine Stunde später würde sich wahrscheinlich das gleiche Szenario abspielen. Nee, so wird das nichts. Peace, Freunde. Irritiert, aber ohne Zorn, musste ich umplanen.
Es gab deutlich mehr Züge in Richtung Spreewald und Cottbus. Ein solcher Zug brachte mich nach Lübbenau, wo ich ausstieg und den nicht weniger schönen Weg durch den Spreewald nahm. Auch hier war ein wenig Kartenstudium sinnvoll, da die zahlreichen Kanäle und Gräben mit dem Fahrrad nur über feste Bauwerke zu überqueren sind, wenn das Ziel einigermaßen zeitlich sinnvoll und trockenen Fußes erreicht werden soll. Der alternativen Ausschilderung, immerhin gab es so etwas, sollte man vertrauen, wenn, wie in meinem Fall, auf einer Hauptstrecke alle Brücken erneuert wurden. Alles andere geht schief! Versuche abzukürzen landen meistens auf einer Wiese vor einem wassergefüllten Graben.
Es ist ein schöner Weg. Hat man das Zentrum des Spreewalds hinter sich, dünnt sich auch die Zahl der Touristen aus. Man kann nun die Wegführung und die Landschaft genießen. Der asphaltierte Grund erlaubt es Vögel zu beobachten und, wenn man Glück hat, entlang fließender Gewässer Biber zu entdecken (wenn man Pech hat, sind es nur Nutrias). Zur groben Orientierung sieht man die Schornsteine und Kühltürme des Kraftwerks Jänschwalde, östlich von Peitz gelegen, vor sich hin dampfen. Am Ende der Tour landet man so oder so im Zentrum von Peitz, wo die Familienbäckerei Uhlmann mit einem Kaffee und gutem Kuchen wie bestellt auf einen wartet. Ich sitze davor oder drinnen, und auf diese Weise ergibt sich ein erster Treffpunkt sowie ein Hallo alter Jazzfreunde, die gleich mir zu genießen wissen.
So beginnt seit einigen Jahren für mich auf neue Weise, aber jedes Mal an einem Freitagnachmittag die jazzwerkstatt Peitz. Neu ist nicht nur die Art meiner Reise dorthin und das Ankommen vor Ort. Ich bin älter geworden. Peitz hat sich verändert. Um ehrlich zu sein, habe ich den Ort nicht wiedererkannt. Wo war noch das Kino? Standen die Reste der Festung auch schon bei den damaligen Besuchen hier? Der Festungsturm ist eigentlich nicht zu übersehen. Es gibt eine Stüler-Kirche? Ich hatte in den späten 1970er Jahren nichts davon wahrgenommen und musste mich fragen, ob ich diesen Ort außerhalb des Kinos überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. Eher wohl nicht! Ich hatte mich nicht dafür interessiert. Auch muss es noch einen Weg zum Bahnhof, vorbei an den großen Teichen, geben. Wir müssen ihn gegangen sein, denn wir haben sicher zurück nach Cottbus die Bahn genommen. Doch da kommen Zweifel auf: Fuhr so spät, nachdem wir gegen 23 oder 24 Uhr das Kino verlassen hatten, überhaupt noch ein Zug? Aber selbst das bleibt für mich im Dunklen. Immerhin gibt es die Festwiese noch. Die Stümpfe, die früher mal die Bretter der Bänke getragen haben, ragen in Reih und Glied wie auf einem Ehrenfriedhof aus der Erde. 1
Es gibt bei diesen Reflexionen aber auch eine Konstante. Sie heißt Ulli Blobel. Er ist zurück und damit auch die jazzwerkstatt. Was wie eine etwas länger andauernde Pause aussieht (immerhin fast 30 Jahre, eine Generation(sic!)), stellt im Rückblick einen kompletten Systemwechsel dar. Genaugenommen haben sogenannte Verantwortliche, die unverantwortlich handelten, Blobel in den 1980er Jahren seinen Lebensinhalt zu nehmen versucht und ihn gezwungen, in der großen, weiten Welt Erfahrungen zu sammeln. Widerspruch und Solidarität von Musikerkolleginnen und -kollegen liefen, wie leider in der DDR nicht anders zu erwarten, ins Leere. Blobel ließ sich nicht zweimal bitten und nahm von Wuppertal aus die Welt westlich der Elbe zur Kenntnis. Konzerte, Tourneen, Jazz, Labels gründen, Weltmusik, Klassik, Musik produzieren und verlegen, ein Geschäftsleben … und zurück. Dabei hat Blobel einiges bewegt und ist sich dabei treu geblieben.
Das lässt sich auch in der Musik, die heute während der jazzwerkstatt in Peitz zu hören ist, ablesen. Eine Wiederbegegnung mit alten Kämpen, deren Musik ich geliebt und deren Entwicklung ich vor allem bei Live-Auftritten nachvollzogen habe, stellt die Ausnahme dar. Na klar, es ist viel Zeit vergangen. Manche haben sich aus dem Jazz verabschiedet, andere sind nicht mehr unter uns. Auch ein enger Freund Blobels und Mitgründer der jazzwerkstatt Peitz, Peter 'Jimi' Metag (1950 – 2013), lebt nicht mehr. Offenheit und Neugier vorausgesetzt, geht es verjüngt, vielfältig, kräftig, zart, überraschend und immer wieder anders weiter. Gelegentlich mischt sich im kleinen Format auch Klassik unter die Angebote. Die radikalen Experimente, die ich in den frühen 1980er Jahren miterleben durfte, die durchaus über die 'Kaputt-Spiel-Phase' des frühen Free Jazz hinausgingen und durch die Einbeziehung von Arbeitsgeräuschen wie Krach und Lärm das musikalische Gehör provozierten, finden sich heute so nicht mehr im Programm. Diesen Impuls nicht ganz aus den Augen zu verlieren, würde ich mir wünschen. Aber klar, die Freude am Jazz ist vielen Musikerinnen und Musikern wie auch einem immer noch reisefreudigen Publikum nicht zu nehmen.
'Jazz is not dead, it just smells funny', Frank Zappa 2, auch das ein Zitat, das in die Jahre gekommen und eben nicht in Stein gemeißelt ist. Wer erinnert sich noch an die stehende und verbrauchte Luft im Kinosaal? Heute wird zu den Konzerten schon lange nicht mehr ins Kino gegangen. Ich habe es noch einige Jahre ungenutzt stehen sehen, 2022 wurde es abgerissen. Auch die Übernachtungen werden, mit einigen wenigen Ausnahmen, für die noch ein Platz für ihr Zelt bereitgestellt wird, in Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen gesucht oder finden im eigenen Bus statt. Die bis zu 14 Konzerte während der jazzwerkstatt werden so auf die teilweise denkmalgeschützten Orten zugeschnitten, dass es Begegnungen von Zeit, Raum und Musik werden. Auch das Innere des Rathauses (ist das Expressionismus oder doch Art déco?) habe ich erst jetzt kennengelernt und mit einem interessierten Publikum bei kulturpolitischen Gesprächen, die ich moderieren durfte, als Kleinod wahrgenommen.
Ich erlebe das Peitzer Jazz-Wochenende in ausgesprochen entspannter Atmosphäre. Interessant ist dabei auch, dass man mit dem Publikum leicht und ohne Allüren ins Gespräch kommt. Kein Fremdeln, kein Abweisen. Es gibt offenbar Gründe, warum man genau jetzt vor Ort ist – und das verbindet. So wird das Wochenende auch zu einem Austausch von Erfahrungen, in denen es sich um Musik, um Jazz insbesondere dreht, aber auch schnell die eigenen Biografien und die Welt in den Blick genommen werden können. So wird es interessant bleiben und die Institution Blobel sich neu bewähren müssen, wenn sie nun von Ulli in die Hand von Tochter Marie übergeht. Wie gesagt: eine Konstante, aber doch anders.
1 Siehe auch: Ulli Blobel (Hrsg.), Woodstock am Karpfenteich. Die jazzwerkstatt Peitz, Berlin 2011
2 Frank Zappa in: 'Be-Bop Tango (of the Old Jazzmen's Church)', Roxy & Elsewhere, 1974