Vorabdruck des Kapitels VIELE WEGE FÜHREN NACH PEITZ von UWE WARNKE aus dem neuen Buch: WOODSTOCK AM KARPFENTEICH II

 

VERLASSENE FREILICHTBÜHNE PEITZ - 2019 und RUINE DES FILMTHEATERS PEITZ - 2022 | © Photos: Uwe Warnke

Natürlich kann man aus allen möglichen Richtungen auch mit dem Fahrrad nach Peitz reisen. Im Grunde bieten sich aber zwei Touren besonders an, die, immer vom Startplatz Berlin gedacht, eben auch mehr sind als nur die Scheinroute vom Bahnhof Peitz Ost zum Hotel.

Als ich in den 2010er Jahren zum ersten Mal hörte, dass es die jazzwerkstatt in Peitz wieder gebe, sah ich mir die Lage des Ortes auf einer Landkarte genauer an und plante, von Norden mich der Stadt zu nähern. Das heißt von Königs Wusterhausen, im Süden Berlins gelegen, könnte ich eine Regionalbahn Richtung Frankfurt/Oder nehmen, unterwegs irgendwo hinter Beeskow aussteigen und dann mit dem Fahrrad den Weg nach Süden suchen. Gemütlich drei Stunden bei Sonnenschein Rad fahren und die Vorfreude auf das Jazz-Wochenende genießen; so stellte ich mir das vor. Ich ging es genauso an, hatte aber nicht damit gerechnet, dass dieselbe Bahnstrecke von Fans eines Rockfestivals genutzt wurde, die zuhauf und mit Campingausrüstungen den Zug komplett blockierten. Unmöglich mit einem Fahrrad da noch mitreisen zu wollen. Eine Stunde später würde sich wahrscheinlich das gleiche Szenario abspielen. Nee, so wird das nichts. Peace, Freunde. Irritiert, aber ohne Zorn, musste ich umplanen.

Es gab deutlich mehr Züge in Richtung Spreewald und Cottbus. Ein solcher Zug brachte mich nach Lübbenau, wo ich ausstieg und den nicht weniger schönen Weg durch den Spreewald nahm. Auch hier war ein wenig Kartenstudium sinnvoll, da die zahlreichen Kanäle und Gräben mit dem Fahrrad nur über feste Bauwerke zu überqueren sind, wenn das Ziel einigermaßen zeitlich sinnvoll und trockenen Fußes erreicht werden soll. Der alternativen Ausschilderung, immerhin gab es so etwas, sollte man vertrauen, wenn, wie in meinem Fall, auf einer Hauptstrecke alle Brücken erneuert wurden. Alles andere geht schief! Versuche abzukürzen landen meistens auf einer Wiese vor einem wassergefüllten Graben.

Es ist ein schöner Weg. Hat man das Zentrum des Spreewalds hinter sich, dünnt sich auch die Zahl der Touristen aus. Man kann nun die Wegführung und die Landschaft genießen. Der asphaltierte Grund erlaubt es Vögel zu beobachten und, wenn man Glück hat, entlang fließender Gewässer Biber zu entdecken (wenn man Pech hat, sind es nur Nutrias). Zur groben Orientierung sieht man die Schornsteine und Kühltürme des Kraftwerks Jänschwalde, östlich von Peitz gelegen, vor sich hin dampfen. Am Ende der Tour landet man so oder so im Zentrum von Peitz, wo die Familienbäckerei Uhlmann mit einem Kaffee und gutem Kuchen wie bestellt auf einen wartet. Ich sitze davor oder drinnen, und auf diese Weise ergibt sich ein erster Treffpunkt sowie ein Hallo alter Jazzfreunde, die gleich mir zu genießen wissen.

So beginnt seit einigen Jahren für mich auf neue Weise, aber jedes Mal an einem Freitagnachmittag die jazzwerkstatt Peitz. Neu ist nicht nur die Art meiner Reise dorthin und das Ankommen vor Ort. Ich bin älter geworden. Peitz hat sich verändert. Um ehrlich zu sein, habe ich den Ort nicht wiedererkannt. Wo war noch das Kino? Standen die Reste der Festung auch schon bei den damaligen Besuchen hier? Der Festungsturm ist eigentlich nicht zu übersehen. Es gibt eine Stüler-Kirche? Ich hatte in den späten 1970er Jahren nichts davon wahrgenommen und musste mich fragen, ob ich diesen Ort außerhalb des Kinos überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. Eher wohl nicht! Ich hatte mich nicht dafür interessiert. Auch muss es noch einen Weg zum Bahnhof, vorbei an den großen Teichen, geben. Wir müssen ihn gegangen sein, denn wir haben sicher zurück nach Cottbus die Bahn genommen. Doch da kommen Zweifel auf: Fuhr so spät, nachdem wir gegen 23 oder 24 Uhr das Kino verlassen hatten, überhaupt noch ein Zug? Aber selbst das bleibt für mich im Dunklen. Immerhin gibt es die Festwiese noch. Die Stümpfe, die früher mal die Bretter der Bänke getragen haben, ragen in Reih und Glied wie auf einem Ehrenfriedhof aus der Erde. 1

Es gibt bei diesen Reflexionen aber auch eine Konstante. Sie heißt Ulli Blobel. Er ist zurück und damit auch die jazzwerkstatt. Was wie eine etwas länger andauernde Pause aussieht (immerhin fast 30 Jahre, eine Generation(sic!)), stellt im Rückblick einen kompletten Systemwechsel dar. Genaugenommen haben sogenannte Verantwortliche, die unverantwortlich handelten, Blobel in den 1980er Jahren seinen Lebensinhalt zu nehmen versucht und ihn gezwungen, in der großen, weiten Welt Erfahrungen zu sammeln. Widerspruch und Solidarität von Musikerkolleginnen und -kollegen liefen, wie leider in der DDR nicht anders zu erwarten, ins Leere. Blobel ließ sich nicht zweimal bitten und nahm von Wuppertal aus die Welt westlich der Elbe zur Kenntnis. Konzerte, Tourneen, Jazz, Labels gründen, Weltmusik, Klassik, Musik produzieren und verlegen, ein Geschäftsleben … und zurück. Dabei hat Blobel einiges bewegt und ist sich dabei treu geblieben.

Das lässt sich auch in der Musik, die heute während der jazzwerkstatt in Peitz zu hören ist, ablesen. Eine Wiederbegegnung mit alten Kämpen, deren Musik ich geliebt und deren Entwicklung ich vor allem bei Live-Auftritten nachvollzogen habe, stellt die Ausnahme dar. Na klar, es ist viel Zeit vergangen. Manche haben sich aus dem Jazz verabschiedet, andere sind nicht mehr unter uns. Auch ein enger Freund Blobels und Mitgründer der jazzwerkstatt Peitz, Peter 'Jimi' Metag (1950 – 2013), lebt nicht mehr. Offenheit und Neugier vorausgesetzt, geht es verjüngt, vielfältig, kräftig, zart, überraschend und immer wieder anders weiter. Gelegentlich mischt sich im kleinen Format auch Klassik unter die Angebote. Die radikalen Experimente, die ich in den frühen 1980er Jahren miterleben durfte, die durchaus über die 'Kaputt-Spiel-Phase' des frühen Free Jazz hinausgingen und durch die Einbeziehung von Arbeitsgeräuschen wie Krach und Lärm das musikalische Gehör provozierten, finden sich heute so nicht mehr im Programm. Diesen Impuls nicht ganz aus den Augen zu verlieren, würde ich mir wünschen. Aber klar, die Freude am Jazz ist vielen Musikerinnen und Musikern wie auch einem immer noch reisefreudigen Publikum nicht zu nehmen.

'Jazz is not dead, it just smells funny', Frank Zappa 2, auch das ein Zitat, das in die Jahre gekommen und eben nicht in Stein gemeißelt ist. Wer erinnert sich noch an die stehende und verbrauchte Luft im Kinosaal? Heute wird zu den Konzerten schon lange nicht mehr ins Kino gegangen. Ich habe es noch einige Jahre ungenutzt stehen sehen, 2022 wurde es abgerissen. Auch die Übernachtungen werden, mit einigen wenigen Ausnahmen, für die noch ein Platz für ihr Zelt bereitgestellt wird, in Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen gesucht oder finden im eigenen Bus statt. Die bis zu 14 Konzerte während der jazzwerkstatt werden so auf die teilweise denkmalgeschützten Orten zugeschnitten, dass es Begegnungen von Zeit, Raum und Musik werden. Auch das Innere des Rathauses (ist das Expressionismus oder doch Art déco?) habe ich erst jetzt kennengelernt und mit einem interessierten Publikum bei kulturpolitischen Gesprächen, die ich moderieren durfte, als Kleinod wahrgenommen.

Ich erlebe das Peitzer Jazz-Wochenende in ausgesprochen entspannter Atmosphäre. Interessant ist dabei auch, dass man mit dem Publikum leicht und ohne Allüren ins Gespräch kommt. Kein Fremdeln, kein Abweisen. Es gibt offenbar Gründe, warum man genau jetzt vor Ort ist – und das verbindet. So wird das Wochenende auch zu einem Austausch von Erfahrungen, in denen es sich um Musik, um Jazz insbesondere dreht, aber auch schnell die eigenen Biografien und die Welt in den Blick genommen werden können. So wird es interessant bleiben und die Institution Blobel sich neu bewähren müssen, wenn sie nun von Ulli in die Hand von Tochter Marie übergeht. Wie gesagt: eine Konstante, aber doch anders.

1 Siehe auch: Ulli Blobel (Hrsg.), Woodstock am Karpfenteich. Die jazzwerkstatt Peitz, Berlin 2011

2 Frank Zappa in: 'Be-Bop Tango (of the Old Jazzmen's Church)', Roxy & Elsewhere, 1974


JAZZWERKSTATT IN BROOKLYN, EINE BILDREPORTAGE VON KARL-HEINZ KRAUSKOPF - 20./21. APRIL 2022

Ein Konzert kann sein Publikum überraschen, es kann enttäuschen, es kann Erwartungen erfüllen oder auch nicht. Das New Yorker Publikum war von den Konzerten der jazzwerkstatt im Roulette in Brooklyn freudig überrascht. Fünf Musikbeiträge, die allesamt neu für's amerikanische Publikum waren und, wenn man es so sagen darf, sehr deutsch klangen. Das die Meinung der Journalisten und Musikerkollegen.

Von Derek (Bailey) To Eric (Clapton) mit Andreas Willers, Jan Roder und Christian Marien war zunächst undeutsch, es war britisch, in bester Tradition auch im Vortrag, kräftiger Rock 'n' Roll, beseelte Stücke von Mingus, Jack Bruce, Clapton und traditionellen Blues.

Die letzten Programme des Wolfgang Schmidtke Orchestra standen in der Tradition der hundertsten Geburtstage von Monk und Charlie Parker. Schmidtke dachte, es sei nicht gut, diese Beiden Jazzstars mit einer europäischen Big Band dem amerikanischen Publikum vorzustellen. Ein Deutscher Komponist musste gefunden werden, wir einigten uns auf Kurt Weill, den man hier wie dort gut kennt. Tagsüber wurde im Roulette geprobt, abends stand das Programm. Großartig!

Ein Trio mit Amerikanern, die in Europa leben, Michael Moore, Greg Cohen und mit einem Deutschen, der in New York lebt, Joe Hertenstein, hatte quasi sein Heimspiel und stellte seine, in Berlin aufgenommene CD 'Live During Lockdown', unter großem Beifall vor.

Julie Sassoon spielte ihr erstes Konzert in den USA, sehr in sich gekehrt, sehr konzentriert, nach dem Motto ihrer jazzwerkstatt-Solo-Veröffentlichung 'If You Can't Go Outside… Go Inside'.

Kurt Schwitters, der deutsche Dadaist, wurde vom Sprecher Thomas Krüger, der sich mehr und mehr zum Jazzsänger wandelt, zum 'swingen' gebracht. Anke Lucks, die die einst musiklose Ursonate mit unglaublich guter Musik, mit hervorragenden Kompositionen ihrer Feder belebt hat, muss hervorgehobene Erwähnung finden. In der Summe war New York ein schöner Erfolg!


jazzwerkstatt Peitz Nr. 59 - 9. bis 11. September 2022

Die Pandemie zwängte uns ein neues Datum für die jährlich stattfindende jazzwerkstatt Peitz auf und Musik in frischer Luft. Das wollen wir nun auch weiterhin so beibehalten, das zweite Wochenende im September und zwei Open-Air-Bühnen sind für die Zukunft gesetzt.  Und die gute alte Stüler Kirche bleibt uns erhalten und für die Kammermusik steht der Saal im Festungsturm zur Verfügung. Die kulturpolitischen Podien werden weiterhin im Rathaussaal gepflegt.

Programmatische Konzepte waren durch eingeschränkte Reisemöglichkeiten der Künstler in den vergangenen beiden Jahren schwierig. Ich bin mir auch nicht sicher, ob das für ein gutes Programm objektiv notwendig ist. Den Kuratoren macht ein Konzept, das sich wie ein roter Faden durch das mehrtägige Programm zieht, natürlich große Freude, und ich hoffe, man gönnt uns diese.

Die Idee in 2022 ist, wie es unsere Art ist, etwas gegen den Strom zu schwimmen. Brexit, No Brexit, wir klammern diesen aus und zeigen als Festivalschwerpunkt Jazz aus London. London war schon immer ein Zentrum des europäischen Jazz und ist es derzeit, neben Berlin und New York, auch.                                                  

Starke Innovationen kommen von dort. Und der gute alte Free Jazz fand auch dort seinen Anfang. Auch die jazzwerkstatt Peitz hat in frühen Jahren immer einen engen Draht nach London gehabt: Keith Tippett, Evan Parker, Paul Rutherford, Elton Dean, die dort im Exil lebenden Südafrikaner um Chris McGregor, Harry Beckett, Trevor Watts, Alan Skidmore, Phil Minton und viele andere waren oft in Peitz. Höhepunkt war 1981 der Auftritt des London Jazz Composers Orchestra.

Die jazzwerkstatt zu Gast in London gab es vor fünf Jahren. In diesem April war die jazzwerkstatt Peitz zu Gast in New York, im Roulette in Brooklyn (wie auch schon 2010). Diese Reisen wurden durch das Goethe Institut unterstützt (2010 auch durch den HKF). Mit diesen Initiativen brach die jazzwerkstatt aus der Lausitzer 'Provinz' auf in die Weltmetropolen des Jazz. Einige Herren von damals können wir auch jetzt wieder in Peitz begrüßen: John Surman, das Trio Evan Parker - Barry Guy - Paul Lytton, Fred Frith & Chris Cutler, der Sänger Phil Minton, und frischen Wind bläst der in Kanada lebende Colin Stetson durchs Festivalgelände.

Aus Berlin sind einige Kooperationsprojekte mit amerikanischen Musikern und Musikerinnen eingeladen, einige sind von uns auch initiiert worden: Oliwood mit Peter Evans, Joe Hertenstein mit Jon Irabagon und Anthony Coleman, Matthias Muche mit Jeb Bishop und Matthias Müller und die Eröffnung der jazzwerkstatt Peitz Nr. 59 mit dem Stefan Schultze Large Ensemble und Colin Stetson als Gast. Proben hierfür finden in den Tagen zuvor in Peitz statt. Das ist sicher die kreativste Art von einem sich durch das Festival ziehenden roten Faden.  Deutschlandfunk Kultur produziert diese Aufnahmen.

Die Jazztradion wird gepflegt mit Ravi Coltrane, der Kompositionen seiner Mutter Alice Coltrane spielt und natürlich auch von John Coltrane. Die Südtiroler Helga Plankensteiner und Michael Lösch spielen, Bassklarinette, Tuba und Schlagzeug in der Band, neu arrangierte Musik von Jelly Roll Morton. Sicher gehört auch das Solokonzert mit Joe Sachse zur Peitzer Traditionspflege.

Auch die Wurzeln der Improvisationsmusik werden in einem Konzert im Festungssaal bedacht. Kolja Blacher, der Berliner Philharmoniker Walter Küssner und der südkoreanische Cellist Tim Park spielen die Goldberg Variationen von Johann Sebastian Bach.

Werkstatt-Projekte, aus denen sich, wenn es gut läuft, feste Bands entwickeln, sind erneut von mir angestoßen und mit den namensgebenden Musikern realisiert. Mit Ches Smith hatte ich bei einem Lunch in Berlin gesprochen, am Ende stand das Quartett mit Mary Halvorson, Mat Maneri und Craig Taborn. Stefan Schultze habe ich Colin Stetson als Gast empfohlen und mit Oliver Steidle wird schon lange über Oliwood, die Besetzungsideen wechselten mehrmals, gesprochen. Letztendlich ist auch Joe Hertenstein - Jon Irabagon - Anthony Coleman eine Festivalproduktion.

Joachim Kühn nach Peitz zu bringen, scheiterte immer am Instrument. Unsere Flügel waren nie ausreichend gut für ihn. Jetzt bringt unser Partner, das Lausitz-Festival, einen großartigen Steinway mit nach Peitz. Und dass Bruder Rolf Kühn das Trio erweitert, ist großartig. Im Trio davor, bei Urs Leimgruber, Thomas Lehn, der jetzt den Platz von Barre Phillips einnimmt und dem Pianisten Jacques Demierre hören wir auch etwas Besonderes: dieser spielt an einem präparierten Spinett. Aber auch alle namentlich hier nicht genannten Musikerinnen und Musiker werden etwas Besonderes, Einmaliges auf die Bühne stellen.

Die jazzwerkstatt Peitz ist eines der ältesten Jazzfestivals in der Bundesrepublik (ein Jahr jünger als das Moers Festival), sicher das älteste in den Neuen Bundesländern. 1982 vom SED-Regime verboten, 2007 von Ulli Blobel, zunächst mit Konzerten in Berlin, wiederbelebt, würde es in diesem Jahr, vergisst man die Jahre des Schweigens, sein 50- jähriges Jubiläum feiern. Wir feiern jedoch nicht, sondern arbeiten mit innovativen Konzepten an der Zukunft. Festivalgründer Ulli Blobel zieht sich im nächsten Jahr zurück. Die jazzwerkstatt Peitz Nr. 60 wird seine letzte sein.Marie Blobel übernimmt! 
Ulli Blobel, 1. April 2022


"Sorg' gut dafür: es ist mein ganzes Leben" mit diesen Worten übergab die Malerin Charlotte Salomon 1942 einem Freund einen Zyklus von mehreren 100 Bildern. Einige Monate später war die 26-jährige Charlotte Salomon tot – als Jüdin, im fünften Monat schwanger in Auschwitz ermordet.

Barbara Menke / Therese Hämer / Julie Sassoon Quartett © Fotos: Karl-Heinz Krauskopf

"An das Schicksal von Charlotte Salomon wollen wir heute Abend mit einer Lesung und einem Konzert erinnern. Dazu möchte ich Sie ganz herzlich begrüßen." So begrüßte Barbara Menke, Bundesgeschäftsführerin der Bildungsorganisation Arbeit und Leben, ihr Publikum zum vorerst letzten Konzert einer dreijährigen Tournee im von-der-Heydt-Museum in Wuppertal.

'Es ist mein ganzes Leben: Charlotte Salomon: Poltisch-historisches Erinnern mit allem Sinn' wurde gefördert von der Bundeszentrale für Politische Bildung.
Ansatzpunkt war für uns der Begriff der 'Erinnerungskultur': In seinen beiden Bestandteilen- nämlich Erinnerung und Kultur, die in Wirklichkeit gar nicht zu trennen sind.

Den Erinnerungsteil bestreitet Therese Hämer.
Mit ihr tauchen wir ein in das Leben und Schicksal von Charlotte Salomon. Diese junge Frau steht exemplarisch für das Schicksal jüdischer Menschen in Deutschland unter dem Nationalsozialismus;
Sie steht für das Erleben und Erleiden von Ausgrenzung, GefährdungVerfolgung und Ermordung.
Therese Hämer hat diesen Text aus verschiedenen Romanen und Reportagen zu Charlotte Salomon eigens für das Projekt zusammengestellt.

Mit der Eigenkomposition des Julie Sasson Quartett können wir musikalisch eine Verbindung zur Gegenwart herstellen und bleiben gleichzeitig in der Geschichte – in der jüdischen Familiengeschichte von Julie Sasson selbst.
Gerade der Blick auf individuelle Schicksale macht deutlicher als allgemeine historische Beobachtungen, was die Deutschen damals ihren jüdischen Mitmenschen angetan haben. All das wird dadurch dringlicher und auch aktueller.
Wer sehen will, sieht nämlich, wohin menschenfeindliche Vorurteile und Alltagsrassismus führen können.
Der heutige Abend ist der Abschluss des Projekts. Vorausgegangen sind insgesamt fast 40 Veranstaltungen, in Kirchen, Schulen, Museen, in soziokulturellen Zentren, in der Elbphilharmonie in Hamburg, in vielen Thüringischen Städten, Land auf und ab tourte das Projekt in Schwerin, Cottbus, Potsdam, im ländlichen Raum, aber auch im Ruhrgebiet, in Bochum und jetzt im Bergischen Land. Viele Menschen haben engagiert mitgearbeitet.
Bedanken möchte ich mich ganz besonders bei Therese Hämer, Julie Sasson und Musiker*innen, und natürlich bei Ulli Blobel, der Seele des Ganzen.  
Mein Dank geht auch an das Von der Heyd Museum und an die Else Lasker-Schüler Gesellschaft, als Kooperationspartner des heutigen Abends
'Charlotte, wie denken an Dich' mit dieser Formulierung hat die Charlotte-Salomon-Grundschule in Berlin Kreuzberg ihr Profil beschrieben: Erziehung zur Demokratie, zu Selbstbestimmung und Akzeptanz von Vielfalt; gegen Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung.
In diesem Selbstverständnis gestalteten wir unsere Abende: Charlotte, wir denken an Dich! - als Frau, als Künstlerin, als Jüdin, als eine von uns! Barbara Menke

jazzwerkstatt Peitz 57: Die Band UNITY 5 zusammen mit Marie und Ulli Blobel © Foto: Ingrid Hoberg

WOODSTOCK AM KARPFENTEICH IN ZEITEN VON CORONA
Getrieben von jugendlicher Aufmüpfigkeit und künstlerischer Neugier entstand vor 50 Jahren in Peitz, einer Kleinstadt im Osten der Lausitz, die Idee einer Jazzwerkstatt. Binnen weniger Jahre mauserte sich der Ort zu einem Hotspot des internationalen Jazz in der DDR. 1982 schob der Staat der Erfolgsgeschichte, die zuletzt bis zu 3.000 Jazzenthusiasten an die polnische Grenze lockte, einen Riegel vor und entzog den beiden Initiatoren Ulli Blobel und Peter 'Jimi' Metag die Genehmigung. Seit 2011 nun trifft sich der Jazz wieder am Rande der Lausitzer Teichlandschaft – 2020 in der 57. Auflage.

In Peitz - ehedem brandenburgische Festungsstadt, heute geprägt von einem der dreckigsten Braunkohlekraftwerke Europas, dessen Silhouette die idyllische Teichlandschaft weithin dominiert - nahm die Jazzwerkstatt vor 50 Jahren ihren Ausgang. In diesem Jahr, Corona bedingt vom Frühjahr auf den Herbst verschoben und mit erheblich reduziertem Publikum, feiert die Jazzwerkstatt ihre 57. Auflage. Im Zentrum des Geschehens steht das Festivalzelt, das eingequetscht zwischen dem zinnenbedeckten Peitzer Rathaus und der kleinen Stadtkirche, die der Schinkelschüler und preußischen Hofbaumeister Friedrich August Stüler 1854 gebaut hatte, Platz für vielleicht 200 Menschen bietet. Sie sind heuer der Einladung von Ulli Blobel, 1950 in Peitz geboren, trotz Corona gefolgt. Ausverkauft. Dennoch hatte die Jazzwerkstatt in diesem Jahr - gemäß der Abstandsregeln - so wenige Zuhörer wie nie. Hier im Zelt, in der Kirche nebenan und auf dem Open Air am Fuße des Festungsturmes um die Ecke bietet das dichte Programm der Jazzwerkstatt an zwei Tagen 18 Konzerte mit knapp 50 Musiker*innen.

Eigentlich sollten sich im Jubiläumsjahr 2020 Jazzer vor allem aus der amerikanischen und britischen Szene ein Stelldichein geben. Die Reisebeschränkungen haben die Planungen durchkreuzt, aber nicht ganz verunmöglicht. Denn mit Ralph Towner, Trevor Watts & Jamie Harris und Kit Downes sind trotz Pandemie mindestens drei Jazzlegenden aus der angloamerikanischen Szene in die Lausitz gekommen. Ihre zeit- und nervenraubende Anreise mit dem Auto durch den Tunnel des Ärmelkanals nonstop durch Belgien in den tiefen Osten hört man den Künstlern in keinem Takt ihrer furiosen Auftritte an.

Die Bewältigung von Hindernissen war immer schon ein Ding der Jazzwerkstatt Peitz. Alles begann mit dem Erschleichen einer Genehmigung zur Nutzung des ortsansässigen Filmtheaters - das heute am Rand des Städtchens vor sich hingammelt - durch einen befreundeten Ortspolizisten. Blobel und Metag (1950 – 2013), gerade der Schulbank entwachsen, wollten nicht mehr Montag für Montag nach Berlin fahren, um abends in der 'Melodie' oder am Deutschen Theater Jazz hören zu können. Also holten sie den Jazz nach Peitz – die Geburt des Festivals aus dem Geist von Bequemlichkeit und jugendlichem Snobismus: Blobel und Metag hatten die nächtlichen Bahnfahrten nach Berlin und die Übernachtungen in der Mitropa satt. Bereits Anfang der 1970er Jahre zählten Musiker wie Klaus Renft, Klaus Lenz oder Tomasz Stańko zu den Gästen der Peitzer Jazzwerkstatt. Der Begriff der Werkstatt war dabei nicht nur eine Floskel, vielmehr bot Peitz dem Jazz im Osten eine Versuchsbühne: Nicht den Westen nachspielen, sondern das Experiment suchen, unter den Bedingungen der musikalischen und ideologischen Beschränktheit des Regimes, das den sozialistischen 'Lipsi-Tanz' kultivierte und wenig für musikalische Aufbrüche übrighatte. 'Weltniveau' im Überwachungsstaat. Manch einer der Jazzer aus dem nicht-sozialistischen Ausland reiste unter falschem Namen an. Auch deutsch-deutsche Ensembles waren von Staats wegen unerwünscht. So wurde aus dem Dresden-Wuppertaler Duo Günter „Baby“ Sommer und Peter Kowald 1976 kurzerhand das Sommer-Winter-Duo. Nur die Jazz-Gemeinde wusste, was hier gespielt wurde.

Jahr um Jahr kamen mehr Jazzbegeisterte, Anfang der 1980er Jahre waren es bis zu 3.000 Gäste. Wenngleich die Jazzwerkstatt für das Regime schwer zu fassen war - die kleine Szene war wenig strukturiert, nicht zentral organisiert - zwang allein die große Teilnehmerzahl den Staat schließlich zum Eingreifen: "Werter Kollege Blobel!", so beginnt der Brief des Peitzer Bürgermeisters vom 17. Mai 1982, "wir teilen Ihnen hierdurch mit, dass Ihnen mit sofortiger Wirkung die Berechtigung zum Abschluß von Vereinbarungen und Verträgen jeder Art zur Vorbereitung und Durchführung von Jazzveranstaltungen und anderer Konzertveranstaltungen entzogen wird." Der Sargnagel für das heimliche Mekka des Jazz in der DDR. Metag bleibt in Peitz, Blobel geht – nach Wuppertal, ruiniert sich in New York binnen weniger Monate durch zu große Projekte, rappelt sich als Musikproduzent  von Ginger Baker, mit dem Schwerpunkt afrikanischer Jazz wieder auf und macht schließlich gutes Geld als Schallplattenproduzent – sein Jugendtraum.

Im November 1989 erfährt Blobel in Brasilien von einer deutschen Nonne, dass "das Reich wieder eins" sei. Erstmals nach seiner Ausreise besucht er Peitz, seine Eltern. Und knüpft zwölf Jahre später an das 1982 verbotene 'Woodstock am Karpfenteich' an, bringt wieder Jazz nach Peitz. Die Jazzwerkstatt bleibt ein Zuschussgeschäft. Und auch 2020 ist es so verrückt wie berückend, hier in der Provinz internationale Stars der Jazzszene zu erleben: ob Ralph Towner oder Trevor Watts, ob Alexander von Schlippenbach, Wolfgang Schmidtke oder Helga Plankensteiner mit Florian Bramböck; ob Baritonsaxophon, Portativ, Sheng, Drums oder Orgel: Am Karpfenteich treffen sie sich. Viele alte Jazzer aus aller Welt, wenige Frauen. Blobel sieht das pragmatisch: "Die Musiker sind alt. Das Publikum ist alt. Ich bin alt. Wir machen weiter." Wir: Das sind er und – 2020 erstmals - seine Tochter Marie, die den Stab langsam übernehmen soll. Wäre doch schön, wenn 2040 zu Blobels 90. Geburtstag das 77. Festival in Peitz über die Bühne gehen könnte. Auch weil es in Peitz um sehr viel mehr geht als die Musik: Wenn hier der Jazz aufspielt, steht auch das Bekenntnis zur Förderung strukturarmer Regionen im Osten der Republik auf dem Programm.

Die Jazzwerkstatt Peitz ist Thema in der Ausstellung 'Störenfriede. Kunst, Protest und das Ende der DDR', die noch bis zum 2. Mai 2021 im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig zu sehen ist.

Dr. Stephanie Jacobs - Deutsche Nationalbibliothek / Leiterin Deutsches Buch- und Schriftmuseum

Leipzig / 16. September 2020
Link: https://www.dnb.de/DE/Kulturell/WechselausstellungDBSM/wechselausstellungDBSM_node.html

      Ulli Blobel und Gerd Dudek | Foto: Michael Lösch

Jazzwerkstatt Peitz
als Teil des Transformationsprozesses für die Lausitz: "… mit Kultur verändern!"

Ich wünsche mir, und daran arbeite ich, dass meine Projekte in ein konzeptionelles Ganzes münden, in dem sich Künstlerisches, Kulturpolitisches und Privates berühren, verzahnen und wechselseitig spiegeln. Hier geht es um Momente des Glücks, um Erlebnisse, vielleicht nachhaltige und natürlich um Kunst.

In ferner Vergangenheit gab es mit der jazzwerkstatt Peitz sogar Prägendes für die Musik und für Teile der Gesellschaft, nicht bewusst, aber trotzdem haben wir die SED-Diktatur herausgefordert, vielleicht auch geholfen, den Zerfall der DDR zu beschleunigen. Vor allem aber hatten wir Visionen, die improvisierte Musik und den Free Jazz nach vorne zu bringen, Konventionen zu brechen und gesellschaftliche Freiräume zu schaffen.

Heute existiert diese Vision nicht mehr, der Free Jazz ist Teil der an Musizierstilen reichen Jazzmusik.
Immerhin, wir waren dabei: die Künstler, das Publikum und wir Veranstalter. Jetzt kann ich nur noch bestrebt sein, gute Musik auf die Bühne zu bringen, will mich dabei nicht auf Jazz beschränken. Moden im Jazz kann ich nicht folgen, kulturpolitische Entscheidungen immer weniger nachvollziehen, wo es doch um uns herum in Riesenschritten rückwärtsgeht, Populisten die Bühne mit Hetze und dumpfen Parolen erklimmen. Mir dreht es das Herz um, dass die AfD den Platz der jazzwerkstatt am Festungsturm zu Peitz dafür nutzte, vor großem Publikum (FAZ, Süddeutsche, Bild und viele andere berichteten) das Bild von Peitz zu ändern. Das Woodstock Am Karpfenteich in den Schatten zu stellen. Auf You Tube ist die demagogische Rede von Alice Weidel zu hören, in der sie den Klimawandel leugnet, verbal entgleist und die notwendigen Transformationsprozesse in der Lausitz in Frage stellt.

Meine Antwort darauf: Kultur- als alternativer Transformationsprozess für die Lausitz.
Die jazzwerkstatt Peitz Nr. 57 und die jazzwerkstatt Peitz Nr. 58 im Jahre 2021 schließe ich in dieses Projekt ein, JazzLand Brandenburg auch.
Ins besonders möchte ich mit einer Sonderausgabe der jazzwerkstatt am 24./25. April in Peitz und am 26./27. April in Cottbus "nach der Wahl, ist vor der Wahl - Aktionstage gegen Populismus" mit Mitteln der Kunst, für Humanismus, für eine vielfältige Gesellschaft und für eine neue Klimapolitik werben.

Ich wünschte mir, es würde heute hinsichtlich der Musik weiterhin so sein wie damals, aber das kann ich noch nicht ermessen, auch nicht erkennen, wohin es mit dem Jazz läuft. Sehr viele Akteure sind auf der Bildfläche. Arbeiten wir weiter, hier schließe ich andere ein, auch in meiner Nachfolge Marie Blobel. Denn die Welt darf nicht so sein, wie sie jetzt ist (auch wenn sie wohlhabender ist als jemals zuvor). Das darf ein öffentlich agierender Veranstalter nicht hinnehmen.
Anders als damals, aber auch jetzt braucht es Veränderungen. In der Gesellschaft, in der Politik und in der Kultur müssen diese herbeigeführt werden. Ich kann das nur mit Mitteln der Musik, heute bewusst, auch das ist anders als damals, indem die jazzwerkstatt im Land Brandenburg, aber auch auf allen ihren Bühnen, Vielfarbigkeit, Toleranz, gesellschaftliches Miteinander garantiert und großartige Kunst präsentiert.

Bekennen wir uns hierzu.
Das vielseitige Programm der jazzwerkstatt, siehe Anlagen, soll Beitrag hierfür sein.

Ulli Blobel im September 2019


Ulli Blobel und Peter 'Jimi' Metag - jazzwerkstatt Peitz Nr. 48 - 2011 - Foto: Ingrid Hoberg

Ostkurve

Weltall, Erde, Mensch

Seit 2013 wanderte sie durch Deutschland und erzählte von Freiheit in der DDR. Jetzt kehrte sie heim, begrüßt von Liebhabern und Laudatoren, mit Sekt und gebührender Musik. Künftig wohnt die Ausstellung Free Jazz in der DDR im Eisenhütten- und Fischereimuseum zu Peitz. Und dokumentiert Weltniveau im Überwachungsstaat.

PEITZ! Ein Name wie Donnerhall. Zwei eingeborene Anarchisten, Ulli Blobel und Jimi Metag, veranstalteten dort von 1973 bis 1982 die Jazzwerkstatt. Sie unterliefen das staatliche Erlaubniswesen und lotsten Europas Free-Jazz-Elite per Privateinladung in die Lausitz. Handgetippte Info-Zettel annoncierten brieflich die konspirativen Konzerte. Man überwies zwanzig Mark und brach auf. Die Reichsbahn füllte sich mit Gleichgesinnten. Peitz war eine klassenlose Gesellschaft. In Jeans und Kutten gewandet, behängt mit Hirschbrüllbeuteln, zog die Prozession vom Bahnhof zum Kino, dem eine Kneipe angeschlossen war. Vor der Kunst galt es ortstypische Delikatessen einzunehmen: Bockwurst und Bier. Die Sichtweite im zugequalmten Schankraum betrug zwei Meter.

Heerscharen schwer regierbarer DDR-Bürger pilgerten ins Gelobte Städtchen, lauschten Instrumental-Ausbrüchen und wurden unheilbar liberalisiert. Das ging lange, doch nicht ewig gut. Nach Werkstatt Nr. 47 schlug der Verbotshammer des SED-Staats zu. Ende Gelände, bis zur Wende. Ulli Blobel emigrierte 1984 in den Westen. Jimi Metag ruht auf dem Friedhof von Peitz. Blobel kehrte nach dem Tod der DDR zurück und blieb ein rastloser Vermittler improvisierter Musik. In seinem Plattenverlag Jazzwerkstatt erschien Woodstock am Karpfenteich, ein Memoir-Buch mit CD, das auch Nachgeborene erleuchtet. Alljährlich wallfahrtet die Szene wieder nach Peitz, musikgeschichtlich gereift. Törichte Freiheits-Dogmen sind gefallen, Harmonien inzwischen erlaubt. Im Juni 2017 erklang gar Bach, nebst anderen Weltstars wie Anthony Braxton, Miroslav Vitous und Baby Sommer. Umjubelt wurden die altwürdigen Heldengebläse Friedhelm Schönfeld, Heinz Sauer, Manfred Hering, Rolf Kühn. Jüngere Liebe empfingen die Pianistinnen Julia Kadel und Julie Sassoon und Christian Lillinger, der trommelnde Hyperaktivist. Mystisch geriet das Nachtkonzert in der Festungsscheune. Urgewaltig schrie Thomas Borgmanns Saxophon zum Vollmond empor. Borgmanns Dackel Theo sprang aufs Podest und fiel stimmlich ein. Was ist Free Jazz? Ein Dreiklang: Weltall, Erde, Mensch.

Christoph Dieckmann

DIE ZEIT, 14. Juni 2017


Ulli Blobel © Foto:  Uwe THEO Kropinski

10 JAHRE JAZZWERKSTATT IN BERLIN UND BRANDENBURG - EINE BILANZ.

Nach einer Buchlesung aus FREIE TÖNE, im Herbst 2006 in Thüringen, traf ich Jazzfans und Musiker, Journalisten und Veranstalter der ehemaligen Jazzszene der DDR in Eisenach nach etwa zwanzig Jahren erstmals wieder. Sie berichteten resigniert über die verschlafene Situation im Berliner Jazzleben, das in Ost und West mehr oder weniger nebeneinander dümpelte. Große Impulse gab es nicht. Das stimmte mich nach fast zwei Jahrzehnten Abwesenheit vom Jazzleben traurig, obwohl ich eigentlich über die vielen Wiederbegegnungen froh war. Die Nacht im Hotel auf der Wartburg war unruhig, ich dachte nach und auf der Heimfahrt nach Wuppertal erzählte ich meiner Frau Uschi, dass ich wieder etwas für den Jazz tun wolle. Wenige Monate später wurde der Förderverein jazzwerkstatt Berlin- Brandenburg e.V. (Gründungsmitglieder: Uschi Brüning, Ernst-Ludwig Petrowsky, Ernst Bier, Uwe Kropinski, Friedhelm Schönfeld) gegründet und das erste Konzert fand im September 2007 im Kammermusiksaal mit diesen Gründungsmitgliedern und dem Peter Brötzmann Trio Sonore statt.

Bis heute fanden in den unterschiedlichsten Konstellationen und auf den unterschiedlichsten Bühnen fast 1.000 Konzerte statt, auch Festivals (European Jazz Jamboree, Orient + Okzident, erstmals schon 2008, Discover US, Berlin Meets Africa, Berlin in New York, 2010 in Brooklyn), Konzertreisen und Austauschprogramme in und mit vielen europäischen Städten (Rom, Palermo, Lana in Südtirol, Luxembourg). Der Höhepunkt war seinerzeit die Neugründung der jazzwerkstatt Peitz vor sieben Jahren, dazu die Buchveröffentlichung über die Geschichte des einstmals größten zeitgenössischen Jazzfestivals der untergegangenen DDR: 'Woodstock am Karpfenteich'.

Das Label jazzwerkstatt veröffentlichte in den 10 Jahren seines Bestehens 175 CDs, weitere 20 auf dem der World Music vorbehaltenen Label Morgenland, 30 auf dem der Kammermusik zugedachten Phil.harmonie und 50 auf ITM Archivs. LPs, DVDs, eine Box jazzwerkstatt Peitz Nr. 50 und sechs Buchveröffentlichungen kommen hinzu. Viele Veröffentlichungen fanden in die Bestenlisten der Deutschen Schallplattenkritik oder wurden 'Record Of The Year' im New York City Jazz Journal, die Covers bekamen Preise für die Gestaltung und 2014 dann den Deutschen Designpreis in Silber.

Das ist eine ordentliche Bilanz.

Das zu erreichen war nicht immer leicht, Hürden mussten überwunden werden, Skeptiker überzeugt und Förderer, staatliche, gesellschaftliche und private, gesucht und gefunden werden. Kulturpoltisch wurde in diesen 10 Jahren viel bewegt. Heute blicken wir auf eine äußerst aktive, ideenreiche und kräftige Jazzszene. Die jazzwerkstatt hat hierzu ihren Beitrag geleistet.

Obwohl es mit dem Jazz für mich nicht so leicht ist. Die Musik ist so breit gefächert, dass sie mir alles oder nichts bedeutet, es kann tiefgründiges emotionales Musizieren sein. Kunst im besten Sinne.
Jazz kann aber auch 'unterhaltsam' und flach sein, auf ein die Füße wippendes Publikum schielen, Jazz heißt es auch, wenn Swing-Orchester zum Tanz aufspielen und niemand tanzt, wenn junge Musiker wie die alten klingen wollen, sich Till Brönner wie Frank Sinatra gibt, wo er doch so gut Trompete spielt. Wenn Jazz in einer Bar den Martini schal werden lässt, wenn junge Sängerinnen wie Billy Holiday klingen wollen, es aber aufgrund ihrer fehlenden Lebenserfahrung nie so wie sie schaffen können, oder wenn eine rote Posaune Christmas-Songs in ausverkaufte Säle schmettert. Das alles nennt sich Jazz. Das alles will ich nicht!

Mir dreht es zuweilen 'die Ohren um'. Ich arbeite für eine Jazzszene, in der es um zeitgenössische Musik geht, gleich ob improvisiert oder komponiert. Work-in-progress, nicht nur auf der Bühne, auch in Programm- und Produktionsstrukturen. Das ist meine Sache. Das ist das Profil der jazzwerkstatt. Hierfür nimmt man dann auch, und das ist oft schmerzhaft, ein kleines Publikum in Kauf.

Daher auch meine Arbeit im weiten Feld der Kammermusik, denn die Brücke zwischen dieser und dem, was ich unter Jazz verstehe, sehe ich. Produktionen mit Komponisten wie Hanns Eisler, Kurt Weill, Boris Blacher, Dmitri Schostakowitsch oder Erwin Schulhoff, das ihm gewidmete Festival 'Brückenbauer in die Neue Zeit' im KMS war viel beachtet, stehen auf der Tagesordnung der jazzwerkstatt. In diesem Sektor Ignoranz und Arroganz zu überwinden und Verbindungen von einem zu anderen Genres zu bauen, ist Teil meines Tuns.

Auch die Konzerte im Herbst zeigen das genreübergreifende Profil der jazzwerkstatt. Unser zehnjähriges begehen wir in Cottbus im Glad House, in Schwerin im Schleswig-Holstein-Haus, im Potsdam-Museum in der Landeshauptstadt in Kooperation mit querkultur e.V. und natürlich in der Kulturbrauerei und mit besonderem Dank in der Landesvertretung Brandenburgs in Berlin. Neu auf der Agenda stehen Konzerte in der Elbphilharmonie in Hamburg, ein kleines Festival im Jazzclub Vortex in London, und besonders freue ich mich, dass ich das einstmals von mir 1986 gegründete und über einige Jahre von Martin Blume fortgeführte 'Ruhr-Jazzfestival' im Kunstmuseum Bochum, gemeinsam mit AMMR - 'Aktuelle Musik Metropole Ruhr' und der Stadt Bochum an den Start bringe, so dass die jazzwerkstatt Programme tief im Osten, in Peitz, und nun auch tief im Westen, in Bochum, stattfinden. Ulli Blobel - Berlin, im April 2017


WOODSTOCK AM KARPFENTEICH- Free Jazz in der DDR

Schrille Töne machte der SPIEGEL Autor Hans Hielscher, auf der Station der Ausstellung „Free Jazz in der DDR- Weltniveau im Überwachungsstaat“ im Hamburger Levante Haus, aus. Auch der Spreewald hatte sein Woodstock. An den Karpfenteich kamen von 1972 an viele hundert Besucher um Free Jazz zu hören und um der eingezäunten Enge der DDR für kurze Zeit zu entfliehen, um nicht konforme Musik zu hören und um sich so zu benehmen wie seinerzeit die enthusiastischen Fans in Woodstock. „Und dann, 1982 war Schluss mit Peitz. Der Staat verbot, was er nicht domestizieren konnte“, so Christoph Dieckmann in DIE ZEIT.
Dann, 2011 war Peitz wieder da und man sollte später, 2013 wieder gen Cottbus fahren, zur  Ausstellungseröffnung im Museum Dieselkraftwerk. Am historischen Klinkerbauwerk, am Amtsteich, zitiert eine Tafel Auszüge aus Xamen Xenien des Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe, die das Wesen dieser Free Jazz Bewegung in der DDR ausmachten: „Du sehnst Dich weit hinaus zu wandern/bereitest Dich zu raschem Flug/Dir selbst sei treu und treu den andern/dann ist die Enge weit genug“. Nicht Teil der Ausstellung, so beschreiben diese Verse doch Inhalte derselben.

25 Jahre nach Ende des Arbeiter- und Bauernstaates, wie die DDR sich zu nennen pflegte, stellte das „Erinnerungslabor“ unter den Kuratoren Stefanie Wahl und Albrecht Ecke eine beachtliche Ausstellung zusammen. Stationen in Weimar, Schwerin, Berlin, Freiberg, Dresden, Potsdam, Magdeburg, Freiberg, Greifswald, Erfurt und Berlin, zeigten nicht nur die zentralen Orte der Konzert- und Festivalaktivitäten in der DDR, sondern brachten Erinnerungen den alten Fans und die Neugierde den neuen. Eine weitere Station der Ausstellung war der Ort in Wuppertal, das Atelier- und Wohnhaus von Peter Kowald, wo die DDR Free Jazz Szene als erstes im Westen etabliert wurde.

Viele tausend Besucher sahen „Free Jazz in der DDR- Weltniveau im Überwachungsstaat“. Nun bekommt die Ausstellung, um Ergänzungen zur jazzwerkstatt Peitz bereichert, ihr festes Domizil, dass am 09. Juni im Hütten- und Fischereimuseum Peitz, am Hüttenwerk 1, seine Pforten öffnet. Die Laudatio hält Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung und ein langjähriger Freund der jazzwerkstatt.

Ulli Blobel


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Einen besonderen Dank an alle Förderer und Unterstützer, ohne deren Hilfe sich viele Projekte nicht würden realisieren lassen.